Onkel Amsel – Eine Liebesgeschichte

Onkel Amsel – Eine Liebesgeschichte

Amaot-02Ein Freund von mir sagte mal auf einer Party, dass man Menschen äußerlich grundsätzlich in drei verschiedene Typen einteilen kann: Pferde-Menschen, Vogel-Menschen und Brötchen-Menschen – wobei Mischtypen durchaus möglich sind. Onkel Herbert war eindeutig ein Vogel-Mensch. Er sah nicht nur aus wie ein Vogel, er verhielt sich auch so. Wie viele vogelartige Menschen hatte er den charakteristischen nach hinten fliehenden Kopf, aus dem vorne eine übergroße, spitze Nase herausragte. Zudem schwang sich sein langer dünner Hals, so wie man es von Reihern oder Störchen kennt, mit einer leichten Wölbung nach vorne aus dem Rumpf heraus. Kurzum, bei seiner Größe von rund 1,95 Metern konnte man nicht anders, als schon beim ersten Anblick an einen merkwürdigen, dürren Vogel zu denken.

Ganz abgesehen davon hatte Onkel Herbert auch das schreckhafte, nervöse Wesen, das Vögeln zu eigen ist. Mit ängstlich flackerndem Blick zuckte sein Kopf unaufhörlich von links nach rechts, immer auf der Hut, ob nicht aus irgendeiner Richtung Gefahr drohte. Wir Kinder haben ihm auf Familienfesten oft übel mitgespielt. Sobald wir einer Papiertüte oder eines Luftballons habhaft werden konnten, schlichen wir uns von hinten an und ließen die aufgeblasene Tüte mit lautem Knall in seinem Rücken platzen. Dann rannte Onkel Herbert mit kleinen Trippelschritten geduckt wie eine fußläufige Amsel hinter den nächsten Vorhang, wobei er unaufhörlich mit feiner Fistelstimme „weih, weih, weih“ rief. Trotz allem hatte er sich seinen Humor bewahrt. Wenn sich die erste Aufregung gelegt hatte, kam er meist schnell wieder aus seinem Versteckt hervor und sagte mit einem Lachen in den Augen: „Das aufgeschreckte Hühnchen muss jetzt erst mal ein Körnchen picken“ und holte den Wacholderschnaps aus dem Wandschrank. Kein Wunder also, dass er in der Familie nur „Onkel Amsel“ hieß.

Alles in allem hatte er sich aber im Laufe der Jahre gut mit seiner Situation arrangiert und konnte ein halbwegs normales Leben führen. Das lag nicht zuletzt an Tante Lydia. Die kleine Italienerin war schon äußerlich das genaue Gegenteil von Onkel Herbert. Mit ihren 1,50 reichte sie ihm gerade einmal bis zu seinem dürren Brustkorb und da wo er lang und gerade war, war sie klein, rund und drall wie eine sonnenreife italienische Tomate. An Tante Lydia gab es keine gerade Linie, sogar ihre Nase war klein und knubbelig. Kennengelernt hatten sich die beiden an einem brütend heißen Tag im Sommer 1962.

Damals arbeitete Onkel Herbert als Buchhalter in der Messerfabrik oben auf dem Berg. Ich weiß nicht wieso, aber man findet auffallend viele Vogelmenschen in Buchhaltungen. Es scheint ihnen eine besondere Freude zu sein, tief über große Registerbücher gebeugt, lange Zahlenreihen zu addieren. Insgeheim glaube ich ja, dass auch Zugvögel beständig durchzählen, wenn sie in ihrer langgezogenen V-Formation gen Süden ziehen. „Quock, eins, Quock, zwei, Quock, drei, Quock, vier….“. Wie dem auch sei, an diesem stickigen Sommertag lag Solingen wie gelähmt unter der Hitze. Es war so heiß, dass die Oberleitungsbusse tiefe Rillen in den weichen Teer der Haltestellen furchten und jeder Gedanke an etwas Abkühlung in der heißen Luft verdorrte, bevor er überhaupt entstanden war. „An dem Tag hat der Lorenz gebretter, als hätte der liebe Gott die große Heizdecke über uns angeknipst.“, fistelte Onkel Herbert, wenn er davon erzählte, wie er Tante Lydia kennenlernte.

Wie jeden Tag verließ er Punkt Vier Uhr nachmittags das Büro, schwang sich, ob der Hitze etwas weniger schwungvoll als sonst, auf sein Fahrrad und rollte erst in das Ittertal hinunter, um dann auf der anderen Seite sein Rad mühselig wieder nach oben Richtung Solingen-Wald zu schieben. Trotz der Hitze pfiff er fröhlich ein Lied vor sich hin. Denn in Wald hatte im Frühjahr eine Eisdiele aufgemacht. Und in dieser Eisdiele stand Lydia mit ihren schokoladenbraunen Augen hinter dem Eistresen.

Fieberhaft überlegte er, welches Eis er heute nehmen sollte. Erdbeere war sein Lieblingseis und unter normalen Umständen hätte er auch kein anderes Eis genommen. Aber hier lag der Fall anders. Onkel Herbert wollte Eindruck als Mann von Welt schinden, der frei und unabhängig jeden Tag aufs Neue entscheidet, was er möchte und immer für eine Überraschung gut ist. Außerdem hatte dies den Vorteil, dass Lydia ein paar Worte mehr mit ihm sprechen musste und hielt seine Hoffnung aufrecht, dass eines Tages vielleicht ein richtiges Gespräch daraus entstehen könnte.

Und so bestellte Onkel Herbert Erdbeere, Schokolade, Zitrone und alle anderen Eissorten wild durcheinander – mal im Becher und mal im Hörnchen, mal eine Kugel, mal zwei und manchmal sogar drei Kugeln. Auf diese Weise spielte sich seit dem Frühjahr tagtäglich immer wieder die gleiche Szene zwischen den Beiden ab:

„Hallo, was darf’s denn heute sein?“

„Heute nehme ich mal Pistazie“

„Wie viele Kugeln?“

„Eine bitte“

„Im Becher oder im Hörnchen?“

„Im Becher, bitte“

Gleich danach bezahlte Onkel Herbert und versuchte mit zittrigen Knien, so würdevoll wie möglich den Laden zu verlassen.

Auch an diesem einen Tag unterschied sich ihre kleine tägliche Zeremonie in keiner Weise von den anderen Tagen. Lydia saß alleine an einem der Tischchen in der Eisdiele und blätterte gelangweilt in einer Illustrierten. Als Onkel Herbert eintrat, schaute sie erfreut auf und fragte schon auf dem Weg zum Tresen, noch während sie sich die kleine weiße Schürze umband: „Hallo, was darf’s denn heute sein?“ Es war heiß, Onkel Herbert hatte keine Lust auf Experimente. „Erdbeere! Heute Erdbeere bitte!“ „Wie viele Kugeln?“ „Zwei“ Lydia tunkte den Eislöffel in Wasser, damit die Bällchen sich besser lösen und fragte weiter. „Im Becher oder im Hörnchen?“ Gerade wollte er die Antwort geben, als sich in ihrem Nacken eine kleine Schweißperle löste, den Hals hinunter ran, kurz am Schlüsselbein stoppte, eine dünne feuchte Spur hinterließ, weiter rollte und schließlich samt Onkel Herberts geheimsten Träumen tief wie im Mariannengraben in ihrem Dekolleté verschwand. „Im Becher oder im Hörnchen?“, wiederholte Lydia ihre Frage. „Zwischen deinen Brüsten“, stieß Onkel Herbert hervor.

Ob es nur diese kleine Schweißperle war, oder ob ihm einfach die Hitze zu sehr zugesetzt hatte, wusste er später nicht mehr zu sagen. Er war wohl am meisten über seine Antwort überrascht. Am liebsten wäre er sofort weggelaufen, doch die Beine versagten ihm den Dienst. So stand er nur versteinert da und flüchtete sich in Gedanken. Gemeinsam mit den Zugvögeln flog er in einer großen V-Formation übers Land. „Quock, eins, Quock, zwei, Quock, drei, Quock, vier….“. Beinahe wäre er mit den Zugvögeln schon über die Grenze hinweg entschwunden und hätte Lydias Antwort nicht mehr gehört. Doch sie drang so eben noch in sein Unterbewusstsein, wurde immer lauter und hangelte sich schließlich bis in sein Bewusstsein vor. „Komm heute Abend um zehn hierher, dann machen wir zu“, hauchte Lydia und schenkte ihm einen umwölkten Blick, bei dem sich kleine goldene Funken wie Mandelsplitter in ihren dunklen Augen spiegelten.

Lydia war mit vier Brüdern und drei Schwestern in einem engen Mehrfamilienhaus in Brixen am Gardasee aufgewachsen. Als eines der mittleren Kinder schenkten ihr die Eltern keine große Aufmerksamkeit. Im Trubel der Großfamilie wurde sie nebenbei geboren, nebenbei aufgezogen und saß nebenbei mit am Tisch, wenn alle aßen. So fiel es auch niemandem auf, dass das stille Mädchen eine große Träumerin war. Und einer ihrer Träume war, dass ein Mann genau diesen Satz zu ihr sagte: „Zwischen deinen Brüsten!“.

„Ja, ja, natürlich heute Abend, zehn Uhr. Selbstverständlich“, stammelte Onkel Herbert und verlies zügig, wie er hoffte nicht zu zügig, die Eisdiele, ohne sich noch einmal umzublicken. Schnurstracks machte er sich auf den Weg zu seinem Lieblingsbaum und kletterte hinauf. Die große Kastanie hatte noch in der Spitze der Krone stabile Äste, von denen aus er weit bis ins flache Rheinland schauen konnte. Dort oben in der Kastanie konnte er nachdenken, ohne dass er gestört wurde. Dort war er ganz er selbst. Und er musste dringend nachdenken. Was in aller Welt hatte ihn geritten, dass er diesen Satz gesagt hatte und warum in aller Welt hatte sie ihn nicht achtkantig aus der Eisdiele geworfen? Hatte er richtig gehört? Er soll heute Abend um zehn vorbeikommen? Oder spielte sein Unterbewusstsein ihm einen Streich, wie es ihm heute schon einmal einen Streich gespielt hat, als er diesen unsäglichen Satz gesagt hatte? Die Gedanken wirbelten um Onkel Herberts Kopf wie ein Schwarm Mücken in der Abendsonne.

Wie so häufig gab der Baum ihm aber Zuversicht. Um halb Zehn beschloss Onkel Herbert, dass er es versuchen würde und machte sich auf den Weg zur Eisdiele. Was sollte ihm auch großartig passieren? Schlimmstenfalls wäre sie nicht da und er würde enttäuscht wieder nach Hause gehen. Und wenn einer ihrer Brüder hinter der Tür wartete, um ihn zu verprügeln? Er wischte diesen Gedanken sofort wieder beiseite. Nein, das würde sie nicht tun! So ein Mensch war sie nicht, bestimmt nicht. Trotz allem zögerte er lange, bevor er an die Tür der Eisdiele klopfte und als diese sich nach einer gefühlten Ewigkeit öffnete, wäre er beinahe sofort in Ohnmacht gefallen. Lydia stand im Gegenlicht in der Tür, ihr blauschwarzes Haar, während der Arbeit sittsam zum Zopf nach hinten gebunden, fiel wild und lockig über ihre Schultern und die bis zum Bauch aufgeknöpfte Bluse gab den Blick auf ihre ausladenden Brüste frei, zwischen denen sie ein Bällchen Erdbeereis balancierte.

Dieser einen Nacht folgten noch viele weitere, in denen die Beiden entdeckten, dass sie nicht nur die Vorliebe für Speiseeis auf nackter Haut teilten. Und so trafen sie sich zunehmend auch tagsüber und frönten ihrer Leidenschaft für Literatur, insbesondere Lyrik, und Musik, insbesondere Schlager. Nicht selten traf man sie im kühlen Grund der kleinen Quelle im Ittertal, deren Wasser durch das Loch eines hochkant gestellten Schleifsteins plätscherte. Onkel Herbert stolzierte dann aufrecht und stolz vor ihr her und rezitierte mit einem wohltönenden Tenor ihre Lieblingslyriker, Hesse, „In dich, Geliebte, steigt mein Traum Tief wie in Meer, Gebirg und Kluft hinein…“ und Heine „Als Sie mich umschlang mit zärtlichem Pressen, Da ist meine Seele gen Himmel geflogen! Ich ließ sie fliegen, und hab unterdessen Den Nektar von Ihren Lippen gesogen.“ Wäre sie nicht schon in ihn verliebt gewesen, spätestens jetzt wäre es um sie geschehen gewesen. Alles hätte ewig so weiter gehen können und die Geschichte wäre hier zu Ende. Aber, wann verläuft eine Liebesgeschichte schon einmal glatt?

Es geschah einem ungewöhnlich kühlen Abend drei bis vier Monate später. Der Mond hing krümelig und schlapp wie ein alter Gouda zwischen den Hausdächern, als Onkel Herbert in den Hof hinter Lydias Haus einbog. Wie immer faltet er seine 1,95 Meter in den Rhododendron unter ihrem Fenster, um von dort ihre kleine Erkennungsmelodie zu pfeifen, damit er Lydia einen Gute-Nacht-Kuss geben konnte. Just in dem Moment, als er die Lippen spitzte, bog, als wollte er die Welt kaputt hupen, mit laut anhaltendem Hupen, ein weißer Fiat 500 in den Hof ein und bremste so kurz und hart, dass er fast in den Rhododendron gerutscht wäre. Onkel Herbert stöhnte auf, jetzt musste er noch länger auf den heißersehnten Kuss warten. Die Tür des Wagens flog auf und aus dem Inneren schälte sich eine Gestalt, die Onkle Herbert schon auf den ersten Blick zuwider war.

Alleine die weiße Leinenhose, war so eng, dass das Gemächt vorne Schatten warf und aus dem weit aufgeknöpften Hemd, in das lose eine verspiegelte Sonnenbrille eingehängt war, quoll das schwarzes Brusthaar buschig wie eine Wolldecke hervor. Gewaltige Kotletten, die dem Brusthaar in nichts nachstanden, rahmten das kantige Gesicht ein. Überhaupt sah die Frisur aus, als hätte er sich alte klebrige Bonbons durch die Haare gezogen, um sie nach hinten zu legen. Nein, diesen Schmierlappen mochte Onkel Herbert ganz und gar nicht. Das war einer dieser eitlen Fatzkes, deren einziger Daseinszweck es war, in ihrer Selbstverliebtheit Menschen wie ihn noch nicht einmal wahr zu nehmen. Nein, solche Menschen mochte er überhaupt nicht, dachte er gerade, als die Hoflampe aufflammte und in ihrem fahlen Licht die Türe zum Hof aufgerissen wurde.

Mit Entsetzen, musste er mit ansehen, wie Lydia herausgestürmt kam, sich in die Arme des Fremden stürzte und ihm einen herzhaften Kuss gab. Onkel Herbert wurde abwechselnd heiß und kalt und in seinen Ohren rauschten gewaltige Wasserfälle, als die Welt um ihn herum ins Bodenlose fiel. Entgegen seiner sonstigen Reaktion erstarrte er diesmal nicht. Ohne nachzudenken oder überhaupt zu wissen, was er tat, rannte Onkel Herbert wild mit den Armen und Beinen schlagend „Weih, weih, weih“ los. Aus seinem Busch heraus über den Hof, über die Straße, über die nächste Straße, durch einen Park und wieder und wieder durch zahllose Straßen. Onkel Herbert rannte und rannte, kopflos in seinem Schmerz, ohne auch nur einmal anzuhalten immer weiter, so dass er auch nicht bemerkte, wie die weinende Lydia lange Zeit hinter ihm her lief und schließlich entkräftet aufgab.

Irgendwann, als der Morgen schon dämmerte, verkroch sich Onkel Herbert in den dichtesten und tiefsten Strauch, den er kannte. Dort hockte er tiefgebückt drei Tage lang und nahm weder den Regen noch den schneidend kalten Wind wahr, der scharf wie ein Filetiermesser durch den Busch fegte und seine dünnen, kalten Finger in jede Ritze seiner Kleidung steckte. Nur ein Gedanke beherrschte ihn: „Seine Lydia hatte ihn mit einem Schmierlappen betrogen. Wie konnte er nur denken, dass eine Frau wie Lydia einen wie ihn, einen Vogelmenschen, lieben konnte, weih, weih, weih“. Am Ende des dritten Tages fasste Onkel Herbert einen Entschluss.

Mit durchnässten Kleidern und völlig durchgefroren verließ er seinen Busch und wanderte schnurstracks in das nächste Blumengeschäft, um Lydias Lieblingsblumen, einen schönen großen Strauch Margeriten, zu kaufen. Lydia liebte Margeriten. Sie waren so weiß und rein und jede Blüte hatte in ihrer Mitte eine eigene kleine gelbe Sonne, die sie im verregneten Solingen an die Sonne ihrer Heimatstadt Brixen erinnerte. Jeden Freitag hatte Onkel Herbert ihr einen solchen Strauß ans Fenster gestellt, bis sie lachend um Gnade bat, weil in ihrem kleinen Zimmer kein Platz mehr war für einen weiteren Strauch. Doch diesmal kam Onkel Herbert nicht einmal auf die Idee, den Strauch Lydia einfach so zu schenken. Er war verletzt und wollte einen Schlussstrich ziehen.

Wieder in seiner Wohnung schloss er sorgsam die Türe hinter sich ab und stellte die Margeriten auf den Küchentisch. Dann setzte er sich an den Küchentisch, und sah zu, wie der Margeritenstrauch genau wie seine Liebe zu Lydia langsam verdorrte. Als alle Blütenblätter abgefallen waren und nur noch ein wenig Grün in den dürren Stängeln zu sehen war, fand Onkel Herbert, dass es endlich Zeit war zu handeln. Sorgsam packte er die Margeriten in eine Tasche, fuhr zu Lydias Haus, stieg wieder in den Rhododendron und wartete bis das Licht hinter ihrem Schlafzimmerfenster erlosch. Nach einiger Zeit, als er sicher war, dass sie schlief, stieg er aus dem Busch und warf den Margeritenstrauch in hohem Bogen durch das geöffnete Fenster in ihr Schlafzimmer.

Lydia erwachte durch das Poltern. Seit diesem unsäglichen Abend schlief sie nur sehr leicht. In jeder Minute, selbst im Schlaf, dachte sie nur an ihn und vergoss bittere Tränen über das Unglück, das ihr widerfahren war. Selbst ihr Lieblingsbruder Enrico, der an jenem Abend mit dem Fiat überraschend zu Besuch gekommen war, konnte ihre Trauer nicht dämpfen. Gemeinsam mit Enrico wartete sie in den ersten Tagen stundelang vor Onkel Herberts Wohnung, um ihm alles zu erklären. Und als er dort nicht auftauchte, fuhren sie quer durch die ganze Stadt zu jedem Baum und jedem Strauch, von dem Lydia wusste, dass Onkle Herbert dort einmal gesessen hatte. In dieser Zeit aß sie kaum etwas und schlief kaum noch. Nach einigen Tagen des Wartens und Suchens, des Hoffens und Bangens war Lydias Kraft fast vollständig aufgezehrt. Sie zog sich zurück in ihre Wohnung und überlies sich ganz ihrer Trauer, so dass sie sogar nur am Rande wahrnahm, wie Enrico sich von ihr verabschiedete, als er wieder nach Italien abreisen musste.

Natürlich wusste Lydia sofort, was der verdorrte Margeritenstrauch zu bedeuten hatte. Fast hätte sie sogar gelacht. Immerhin war es seit Tagen das erste Lebenszeichen von ihrem Herbert. So gleich stand sie auf und wässerte erst einmal die armen geschundenen Blumen. Es war noch ein wenig Grün in den Stängeln und es bestand Hoffnung, dass sich die Pflanze wieder erholen würde. Doch je länger Lydia den Topf in ihren Händen hielt, desto mehr erwachten ihre Lebensgeister, und je mehr ihre Lebensgeister erwachten, desto wütender wurde sie. Dieser Bastard! Was bildet er sich eigentlich ein. So behandelt man keine Frau und schon gar keine Italienerin. Lydia zog sich an und stapfte mit ihren kleinen Beinen vor Zorn dampfend durch die nächtliche Stadt bis zu seiner Wohnung.

An seiner Wohnungstür angelangt, hielt sie kurz inne. Sie kannte ihren Herbert und sie wollte da hinein. Ganz leicht klopfte sie an die Türe und säuselte zart. „Herbert bist du da?“ Auf der anderen Seite der Türe regte sich etwas. Er konnte noch nicht lange wieder zurück sein und war noch wach. „Amselchen, komm mach die Tür auf! Böhtte Amselchen, es war doch nur mein Bruder, der überraschend aus Italien zu Besuch kam.“ Ein Lichtstrahl drang unten durch die Türe. Er musste jetzt in der Diele sein. Lydia säuselte weiter. „Komm mein Süßer, lass mich rein. Wir wollen uns wieder vertragen, ja?“. Tatsächlich öffnete sich die Tür einen Spalt und Onkel Herberts ängstlich flackernden Äuglein kamen über der langen Nase zum Vorschein.

Der kleine Spalt hatte Tante Lydia gereicht. Sie stieß die Türe auf und dampfte wütend wie eine Fregatte auf hoher See durch den Flur in die Küche. In der Küche griff sie sich die erst beste Tasse vom Tisch und schleuderte sie in Richtung Onkel Herbert, der ihr unsicher hinterhergestakst kam. „Wer glaubst du Lump eigentlich, wer du bist, hä? Tagelang lässt du mich in der Ungewissheit, ob dir etwas passiert ist, oder ob du dir etwas angetan hast und dann wirfst du mir diesen mickerigen Margeritenstrauch durchs Fenster!“ Lydia hatte sich zum Geschirrschrank vorgearbeitet, von dem aus sie eine Salve Untertassen in Richtung Onkel Herbert feuerte. „Jetzt komm endlich hinter diesem Vorhang hervor und hör auf zu Weih-Weih-Weihen. Was habe ich um dich geweint, was habe ich gezittert. Und du hast die Frechheit zu glauben, ich hätte einen anderen“. Jetzt war sie so richtig in Rage und neben Onkel Herberts Kopf zerplatzten Teller, Kaffeekannen und Suppenterrinen. „Noch nie bin ich so gedemütigt worden. Meine reine Liebe habe ich dir geschenkt, mit allem was ich habe. Und du hältst mich für eine miese Betrügerin?! So viel Vertrauen hat der Herr also zu mir und unserer Liebe “. Das letzte Fach des Geschirrschrankes mit den Gläsern, Bechern und Karaffen leerte sich so langsam und mit ihm Lydias gerechter Zorn.

Als sie das letzte Glas geworfen hatte, stand sie einen Moment mit von der Raserei zerzausten Haaren still inmitten der Scherben und dicke Tränen liefen stumm über ihre Wangen. Dann sagte sie: „So, nun komm her und tu einen Kuss auf mich drauf, damit wir uns wieder lieb haben können!“ Das war dann auch das Ende ihres Streits. Ein halbes Jahr später heirateten sie und zogen in ein kleines Häuschen im Dorperhof, eine Hofschaft am Rande Solingens inmitten der Wupperberge mit Blick auf die Müngstener Brücke. Ideal um dort eine ganze Horde an Kindern großzuziehen. Meine Cousins und Cousinen sind übrigens ausgesprochen hübsche Kinder. Das lange Dürre und das kleine Knubbelige scheint sich in ihnen auf wundersame Weise neutralisiert zu haben. Ach ja, und in einer Ecke des Gartens steht ein kräftiger, alter Margeritenstrauch, der schon einmal fast verdorrt war.

 

2 Comments

  1. Pingback: Leseempfehlung vom 26. May 2015 | off the record

Kommentar verfassen

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.