Tante Elli – Flieg, kleine Frau flieg

Tante Elli – Flieg, kleine Frau flieg

Durch den Regen konnte ich ihre Tränen sehen. Sie müsse jetzt gehen, diesmal gäbe es kein Zurück mehr. Damals war ich zwölf und verstand nur die letzten Worte: Kein Zurück mehr. Von einem Moment auf den anderen schnitten sie aus meinem kleinen Leben den wichtigsten Teil heraus. Tante Elli war meine Lieblingstante, Vertraute und weise Ratgeberin. Obwohl oder vielleicht gerade, weil sie die anderen für sonderlich und verschroben hielten. Manchmal verschwand Tante Elli. Einfach so. Tage oder Wochen später kam dann ein Anruf, dass man sie abholen könne. Im günstigsten Fall fuhr mein Vater mit dem Auto los und fand sie zerzaust, mit  abwesendem Blick am angegebenen Ort. Nicht selten mussten wir ihr aber auch Geld für ein Ticket schicken. Dann war sie in den merkwürdigsten Ländern am Rande der Welt gestrandet. „Die Alte kostet mich noch den letzten Nerv. Lass sie doch einfach stehen, wo sie ist. Soll sie sehen, wie sie wieder zurückkommt“, schimpfte meine Mutter immer ärgerlich, wenn ein Anruf kam. Doch mein Vater ignorierte ihr Gezeter und machte sich wortlos auf den Weg. Ich denke, dass er einer der Wenigen war, die wussten, was mit Tante Elli los war. Mich interessierte das Gezeter meiner Mutter und die hämischen Kommentare der anderen Familienmitglieder ebenso wenig. Verschwinditussi nannten, sie Tante Elli, weil sie unsittliche Männerbekanntschaften hinter ihrem plötzlichen Verschwinden vermuteten. Unverheiratete Frauen waren ihnen, wie den meisten Menschen damals, suspekt – vor allem wenn es starke Frauen waren. „Die alte Dörrpflaume wird wieder frisch gemacht“, dröhnte Onkel Herbert, ein entfernter Cousin, und lachte dann sein dreckiges Bauarbeiterlachen.

Ich kannte Tante Elli besser als sie. Tante Elli war ein Pergamentwesen. So hat sie sich selber genannt. Und tatsächlich schien sie von der Seite betrachtet auf merkwürdige Art flach wie ein Blatt Papier. Manchmal hatte ich sogar den Eindruck, dass sie auch so biegsam wie Papier sei. Ihre Bewegungen waren schnell und fließend. Nie wieder habe ich später jemanden gesehen, der so schnell mit so sparsamen Bewegungen wie ein Tänzer durch den Raum glitt. Sie schien sich zu drehen und zu wirbeln wie ein Blatt Papier, das im Wind über den Boden gleitet. War es still, dann konnte man sogar ein leises Rascheln vernehmen. Dabei war sie in ihrer Zierlichkeit durchscheinend. Jede Emotion leuchtete von innen aus ihr heraus. Wut, Zorn, Liebe, Hoffnung, alles hatte seine eigene Farbe. Je nach Intensität glühten ihre Gefühle in hellerer oder dunklerer Schattierung wie bei einem Lampion nach außen. Glück war violett, Zorn war blau und Sehnsucht gelb.

Schon bei ihrer Geburt war Tante Elli kleiner und schmächtiger als alle anderen Kinder. Der Arzt befand, dass sie nicht lange zu leben hätte. Sie war so klein und leicht, dass sie einmal beinahe samt ihrem Oberbett in der Kochwäsche gelandet wäre. Nur durch Zufall hörte meine Oma, die sie mit der Bettwäsche gegriffen hatte, ein leises Wimmern aus dem Wäschekorb, sonst wäre es wahrscheinlich um Tante Elli geschehen gewesen. Und auch später als sie heranwuchs, war von Schwind- und Magersucht die Rede. Obwohl sie den Ärzten ein Rätsel aufgab, denn ihre Konstitution war kräftig  und wirklich krank ist sie entgegen aller Prognose ihr Leben lang nicht gewesen. Viel gefährlicher als alle Krankheiten aber war für Tante Elli der Wind. Kaum frischte er ein wenig auf oder sie geriet in eine Böe, wurde Tante Elli auch schon fortgerissen und wirbelte durch die Luft. Meistens blieb sie dann in einem Baum oder einer Hecke hängen, aus der sie meine Großeltern ziemlich zerkratzt befreien mussten. Einmal fiel sie bei der Landung sogar durch  den Gitterrost eines Gullideckels und die Feuerwehr brauchte mehrere Stunden, bis sie Tante Elli aus ihrem Gefängnis befreit hatte. Auch die anderen Kinder wollten nicht mit ihr spielen. Wer braucht schon eine Spielkameradin, die beim ersten Windstoß verschwindet? Nur im Herbst war Tante Elli sehr gefragt. Dann banden sie ihr eine Schnur um den Bauch und benutzten sie als Drachen. Ich fragte Tante Elli einmal, ob es nicht schrecklich gewesen wäre, keine echten Freunde zu haben. Tante Elli sah mich mit ihren durchdringenden Augen an und lächelte. Nein, sagte sie, so habe sie fliegen gelernt und der Wind sei ihr Freund geworden. Tatsächlich wurde sie süchtig nach allem, was mit Fliegen zu tun hatte. Sie verschlang jedes Fachbuch, das ihr half, Wind, Wetter und Thermik besser zu verstehen. Sie studierte Wetterkarten, zeichnete jede Wettervorhersage penibel in einem kleinen Notizbuch auf und verglich sie mit ihren eigenen Beobachtungen. Sie nutzte jeden noch so kleinen Windhauch, um abzuheben und zu üben. Am Ende war sie eine wahre Flugmeisterin. Oft habe ich ihr staunend zugesehen, wie sie sich in den Wind stellte, die Arme ausbreitete und mit dunkelviolett leuchtender Glückseligkeit im Gesicht abhob. Sie war Schneiderin und hatte sich eigens dazu kleine Flügel von den Handgelenken zur Hüfte in die Kleidung genäht. Diese waren so geschickt angebracht, dass sie den Stoff raffen konnte, wenn sie nicht flog. Die Menschen sollten nichts von ihrem Geheimnis wissen.

Einmal sah ich ein Foto von ihr in einem Buch. Karl Marx und Friedrich Engels in Wuppertal. Tante Elli stand in einer Gruppe im Hintergrund. Ich hatte sie sofort an ihren Augen erkannt. Das merkwürdige war nur, es war ein Geschichtsbuch und das Foto war gut 100 Jahre vor ihrer Geburt aufgenommen. Tante Elli lachte, und erklärte mir, dass dort, wo der Wind die Luft besonders stark verwirbeln würde, sich auch die Zeit verwirbelte. Manchmal würde sie in einen dieser Wirbel schlüpfen und  durch die Zeit reisen. Ja, und bei einer dieser Reisen hätte sie auch Marx getroffen. Er sei ein alter von Furunkeln geplagter Stinkstiefel gewesen. Deshalb hätte er auch Hegel verdreht. Das Ganze Ding mit dem das Sein bestimmt das Bewusstsein, habe er wie eine Fahne vor sich hergetragen. Ständig habe er darauf hingewiesen, dass er ja nur wegen seiner Furunkel so griesgrämig sei und gar nichts dafür könne. Tante Elli lachte herzhaft, als sie das erzählte. Hinter vorgehaltener Hand habe man ihn den Furunkel des Sozialismus genannt. Überhaupt amüsierte sie sich königlich darüber, wie so manche Persönlichkeit heute in den Geschichtsbüchern beschrieben werde. Die Menschen glaubten immer, weil jemand einmal etwas Entscheidendes getan oder ein besonderes Talent hätte, wäre er in allen Lebensbereichen ein Vorbild. Wenn sie nur gesehen hätten, was sie gesehen habe, dann würden sie viele ihrer Urteile revidieren. Sie vertrat sogar die Ansicht, dass nach ihren Erfahrungen eine Persönlichkeitsstörung die beste Voraussetzung für einen Platz in den Geschichtsbüchern sei.

Per Zufall sei sie eines Tages bei Karl dem Großen durchs Fenster geweht worden. Karl sei gar nicht groß gewesen, sondern eher klein, ein Pergamentwesen ganz so wie sie. Der Arme hatte fürchterliche Molesten mit seinem königlichen Umhang. Der kleinste Windhauch reichte aus, der Umhang blähte sich wie ein Segel, Karl der Große wurde vom Thron geweht und lies ein paar verblüffte Untertanen zurück. Da das Ganze mehrmals am Tag geschah – damals waren die Paläste und Burgen alles andere als winddicht -,  nähte ihm Tante Elli kurzerhand Bleigewichte in den Hermelinsaum seines Umhangs und ein paar Schlaufen an die Ärmel, mit denen er sich an den Lehnen seines Throns einhaken konnte.  In den Geschichtsbüchern fände sich natürlich nichts darüber, nur dass er sehr weise und würdevoll sein Amt ausfüllte. Der Eindruck sei nur wegen seines langsamen, getragenen Gangs, die Bleigeweichte ließen ihn schlürfen, und seiner aufgrund der Schlaufen reglosen Haltung auf dem Thron entstanden, sagte Tante Elli. Eigentlich sei er ein reines Nervenbündel gewesen, weil er permanent in der Angst lebte, im nächsten Moment weggeweht zu werden. Ganz anders, mit einem verliebten zartrosa Leuchten, sprach sie hingegen über Chagall. Charmant sei er gewesen  und auf besondere Art zuvorkommend. Die Beiden muss etwas verbunden haben, denn Tante Elli zeigte mir dieses Bild und sagte, dass wäre nach ihrer ersten Begegnung entstanden. Später habe er noch mehr Bilder von ihr gemalt. Gefühle scheinen eine anziehende Wirkung zu haben, meinte sie versonnen, denn sie sei zu Chagall häufiger als zu jedem anderen Ort zurückgekehrt.

Jetzt stand sie an diesem grauen, regnerischen Nachmittag im Herbst vor mir und erklärte, dass sie gehen müsse. Ihre Energie wäre hier nahezu aufgebraucht. In der Vergangenheit verginge die Zeit für sie langsamer, deshalb hätte sie dort noch ein wenig länger zu leben. Sie hoffe, ihre letzte Zeitreise würde sie zu Chagall führen. Dann hob sie ab und leuchtet noch lange sorgenvoll grün mit gelben Sprenkeln der Hoffnung am Himmel.

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