Onkel Jupps Weltreise – oder, Mercedes über den Knorpel gejubelt

Onkel Jupps Weltreise – oder, Mercedes über den Knorpel gejubelt

Am liebsten waren mir die ruhigen Stunden nach dem Mittagessen, wenn sich der Trubel in Oma Gustels Garten gelegt hatte und die Familie döste und verdaute. Die einzigen Geräusche in der Stille waren die leisen Gespräche der Männer, die in Unterhemden im Schatten des Holunderbusches Skat spielten. Und manchmal das Plärren des Radios. Eigentlich war es gar kein Radio. Es war Onkel Jupp. Genau genommen, waren es seine falschen Schneidezähne. Ich hoffte immer, dass er lange genug schlief, dann konnte man auf seinem Schneidezahnradio die WDR2 Bundesliga-Konferenz hören. Am liebsten mochte ich, wie die Torschreie der Kommentatoren aus der Tiefe seiner Mundhöhle hallten. Das langgezogene OOOO klang wie mein Plüschbär, wenn man ihm auf den Bauch drückte. In den 50er Jahren war Onkel Jupp ein aufstrebender Rennfahrer gewesen. Seine Karriere fand jedoch ein jähes Ende, als sein Bein nach einem Unfall nahezu steif blieb. Nach dem erfolglosen Versuch sich eine neue Existenz mit Trainings zum richtigen Spazierengehen mit Skistöcken, er war da seiner Zeit wohl zu sehr voraus, aufzubauen, landete er schließlich als Redakteur bei der Fachzeitschrift „Motoren im Schnee“. Sein erster Auftrag führte ihn nach Schweden. Auf der Rückfahrt mit dem Schiff lernte er einen trinkfreudigen schwedischen Geschäftsmann samt seines selbstgebrannten Schnapses intensiver kennen, als ihm lieb war. Drei Tage später erwachte er mit dröhnendem Schädel aus dem Koma und war auf einer Kreuzfahrt nach Amerika. Man hatte das Schiff auf eine neue Route geschickt und Onkel Jupp, der schlafend unter eine Bank gerollt war, schlichtweg übersehen.

Ungeachtet der Folgen lief Onkel Jupp, gerade erwacht, schnurstracks in die Kombüse und briet sich unter den staunenden Blicken des Küchenchefs Rührei mit Speck. Die zaghafte Frage des Küchenchefs konterte er mit einem gezielten Wurf eines großen Filetiermessers haarscharf am Ohr des Smutjes vorbei. Ansonsten sanft wie ein Lamm, verkatert war Onkel Jupp so genießbar wie ein Gerüstbauer nach einer Vier-Stunden-Oper. Rührei mit Speck war dann das einzige, was ihn wieder beruhigen konnte. Der Koch nahm Onkel Jupp den Messerwurf nicht übel. Die beiden wurden Freunde. Abends, wenn der Koch frei hatte tranken sie die angebrochenen Flaschen der Bordbar leer und morgens aß Onkel Jupp Rührei mit Speck. Tagsüber lag er dann faul in einem der Liegestühle an Deck und sonnte sich. In der Folge expandierte sein Bauch während der zweiwöchigen Überfahrt zu einem veritablen Ballon und sein Gesicht wurde rund und gutmütig. Zusammen mit seinem damals noch vollen schwarzen Haarschopf und seiner kräftigen, untersetzten Statur wurde ihm das bei der Einreise nach Amerika zum Verhängnis. Ohne gültiges Visum und Sprachkenntnissen landete er erst bei der Einwanderungsbehörde und danach in Tijuana. Ein leises bei den mexikanischen Matrosen gelerntes „Hijo de Puta“ überzeugte den amerikanischen Beamten vollends, mit wem er es hier zu tun habe, und Onkel Jupp saß in einem Truck Richtung Grenze.

Die nächsten Jahre verbrachte er als Kaffeepflücker, Viehtreiber und Wanderarbeiter. Abends gab es Tequila und Mescal und morgens mexikanisches Frühstück mit Rührei, Reis und Bohnen. Onkel Jupp fühlte sich wohl und revanchierte sich auf seine Weise mit bergischen Spezialitäten: Er buk Bullebäuschen. In einigen Gegenden spricht man noch heute vom Bullebäuschen Jupp. Alles lief prima, bis er auf die Farm von Don Alphonso Rivera Gonzales kam. Don Aphonso wurde ein großer Liebhaber von Bullebäuschen und Onkel Jupp von seiner Tochter Mercedes. So beendete Onkel Jupp nach Jahren sein Vagabundenleben und avancierte zum Großgrundbesitzer-Schwiegersohn. Die Hochzeit feierte man auf dem Zocalo von San Cristobal de las Casas mit allen Bewohnern des Ortes, reichlich Tequila und Feuerwerk. Ein großes Gerüst stand mitten auf dem zentralen Platz und Kinder tanzten, bedeckt mit Pappkartons, unter dem sprühenden Funkenregen der daran befestigten Feuerwerkskörper. Mariachis jauchzten Eiyeiyeiyei und zum Höhepunkt der Feierlichkeiten trugen die jungen Männern einen Stier aus Pappmaché auf den Zocalo. Der Stier war gespickt mit rotierenden Feuerscheiben und Heulern, die in die Menge schossen. Unter dem Gejohle der Feiernden brannten sie in so manch buntes Festtagskleid schwarze Löcher. Es war eine große Ehre, den Stier so lange wie eben möglich zu tragen. So jagten die jungen Männer nicht nur dem Stier hinterher, sondern ihn auch jedem, der zufällig oder nicht im Weg stand, auf Balg. Onkel Jupp stand im Weg. Das Letzte, was er sah bevor sich seine Schneidezähne verabschiedeten, war eine Explosion aus Licht und Farben.

Längst ein halber Mexikaner entschied sich Onkel Jupp für die mexikanische Variante der kosmetischen Zahnchirurgie aus viel Metall und ein wenig kaschierender Keramik. Ein Tontechniker, den ich später einmal befragte, vermutete, dass es die Zähne gemeinsam mit den Metallplatten, die seit Onkel Jupps Unfall als Rennfahrer noch in seinem Körper steckten, den Radioeffekt auslösten. Genau konnte er es mir aber auch nicht erklären. Was mich verwirrte, brachte Mercedes um den Verstand. Don Alphonsos Tochter war eben so schön und temperamentvoll, wie dumm und abergläubisch. Fest davon überzeugt, dass ihr Gatte von einem bösen Dämon besessen sei, beauftragte sie einige der Vorarbeiter damit Onkel Jupp zu beseitigen. Nun waren die Mestizen zu Onkel Jupps Glück zwar christlich geprägt, in ihrem Innern aber tief verwurzelt mit den alten Göttern der Mayas. Da sie sich nicht sicher waren, ob der Dämon nicht vielleicht doch etwas mit ihren alten Göttern zu tun hatte, brachten sie Onkel Jupp etwas weiter weg, als nur um die Ecke.

So erwachte er eines schönen Morgens aus seiner Betäubung auf der großen Jaguarpyramide in Tikal. Die Vorarbeiter fanden, dass Guatemala ein ausreichender Abstand wäre und die Stätte der alten Mayas der richtige Ort für Dämonen welcher Religion auch immer. Der Morgen dämmerte silbergrau am Horizont und der Dschungel rund um die Ruinen erwachte in einer Kakophonie aus tausend Tierstimmen. Langsam vertrieben die ersten Sonnenstrahlen den Nebel und die Ruinen tauchten wie eine Märchenstadt aus seinen Schleiern auf. Und mit den Ruinen tauchte auch eine singende Gruppe Lacandonen auf – Maya-Nachfahren, die sich versammelt hatten, um den alten Göttern zu huldigen. Ob der plötzlich aus dem Nebel auftauchenden Gestalten fiel Onkel Jupp die Kinnlade hinunter und er skandierte das Popol Vuh, das Heilige Buch der Mayas. Sein Zahnradio hatte ein Kultursendung des lokalen Senders eingefangen. Sofort schmissen sich die Lacandonen in den Staub, um dem auferstandenen Gott, der in dem komischen weißen Mann lebte, die Ehre zu erweisen. Onkel Jupp hatte seine Bleibe für die nächsten Jahre gefunden. Fern ab jeglicher Zivilisation lebte er in Einklang mit der Natur und buk Bullebäuschen für Lacandonen. Er verließ die friedlichen Indianer erst, als ihn dort zwei Hobby-Ethnologen aus Oer-Erkenschwick auftrieben. Gut 20 Jahre nach dem er den Kurztrip nach Schweden gestartet hatte, nahmen sie ihn wieder mit in die Heimat.

Onkel Jupp starb am Ende genauso kurios, wie er gelebt hatte. Als er am Solinger Turmhotel vorüber ging, wurde er von einem Fernseher erschlagen, den eine unbekannte Rockband beim Zertrümmern des Mobiliars aus dem Fenster warf. Auf der Beerdigung hörten wir zum letzten Mal seine Zähne. Leise klang „Video killed the Radio Star“ aus dem Sarg, bevor er endgültig in der Erde verschwand.

3 Comments

  1. (Ich war letztes Wochenende fast einmal in Oer-Erkenschwick, leider hat mir der verkaufsoffene Sonntag in Recklinghausen das Erreichen unmöglich gemacht. )
    Danke für das Teilen der Lebensgeschichte von Onkel Jupp! So einen wie ihn wird es nie mehr geben, und sei es nur, weil irgendwann einmal der Digitalfunk Einzug hält und Metallzähne dann nur noch vor sich hinrauschen werden.

    1. amaot

      Welch schreckliche Vorstellung, dass Onkel Jupp hätte durchs Leben rauschen müssen, weil die gute, alte Radiowelle an der Digitalfunkmauer strandet. Aber wieso hindert der verkaufssoffene Sonntag in Recklinghausen am Besuch von Oer-Erkenschwick? Hat Oer-Erkenschwick nach 20.00 Uhr zu?

      1. Die Straße nach Oer-Erkenschwick war leider ganz profan zugestaut ob der vielen Reisenden Richtung Shopping. Ich frage mich, in was Onkel Jupp da wohl hineingeraten wäre. Auf jeden Fall wären Bullebäuschen und selbstgebrannter Schnaps in dieser Geschichte vorgekommen. 😉

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