Geschichten mit Briefen und Briefträgern

Geschichten mit Briefen und Briefträgern

Briefe und BriefträgerFrüher war es einfacher, da konnte man eine Geschichte damit beginnen, wie ein Briefträger langsam den Weg zum Haus hochkommt. Das ist ein großartiger Anfang. Heute müsste man dafür schon einen Historienroman schreiben. Aber, eine ankommende Mail ist einfach nicht so schön.

Man kann nämlich nicht beschreiben, wie der Protagonist in der warmen Frühlingssonne am Eingang seines Hauses lehnt und den Briefträger, der gerade mit seinem Fahrrad um die Ecke biegt, entdeckt. Der Protagonist spürt das raue Holz des Türrahmens in seinem Rücken. Das Haus liegt auf einem Hügel und der Weg windet sich steil die Anhöhe hinauf, so dass der Briefträger sein Fahrrad mit der Tasche voller Briefe am Lenker schieben muss. Braun, abgewetzt und vom Wetter gegerbt wiegt die Tasche schwer und der Briefträger stapft, die blaue Postmütze in den Nacken geschoben, leicht gebeugt vor sich hin. Wäre er näher, könnte unser Protagonist die kleinen Schweißperlen auf seiner Stirn sehen. Aber es wird noch einige Zeit dauern, bis der Briefträger das Haus erreicht. Noch ist er klein wie eine Figur auf einer Spielzeugeisenbahn. Aus der Ferne stellt sich der Protagonist gerne vor, dass es die schweren Worte sind und nicht das Papier, das den Briefträger beugt. Fast jeden Morgen gibt er sich diesem Gedanken hin. Für ihn ist es schon zu einem Spiel, einem liebgewordenen Ritual geworden. Jeden Morgen um exakt viertel vor Zehn legt er die Arbeit nieder, geht in die Küche, holt die Kaffeedose von dem alten, aus losen Brettern gezimmerten Regal und kocht sich einen Kaffee. Dann tritt er vor das Haus und blickt mit dem dampfenden Kaffee in der Hand auf die Biegung am unteren Ende des Hügels. Es sind immer nur Augenblicke, die darüber entscheiden, ob er als erster aus der Tür tritt oder der Briefträger als erster um die Ecke biegt. Mehr als zehn Jahre machen die beiden das nun schon und noch nie hat sich einer mehr als ein paar Augenblicke verspätet.

Andererseits könnte der Protagonist auch gerade in seinem Garten arbeiten und den Briefträger gar nicht erwarten. Er könnte in der Erde wühlen. Gute dunkelbraune Erde, noch feucht von den Regenfällen der Nacht. Der Protagonist spürt wie die Kälte durch das Fleisch seiner Hände bis in die Knochen kriecht. Vorsichtig hebt er einen Regenwurm auf und betrachtet wie er sich zwischen seinem Daumen und Zeigefinger windet, seine Enden hin und her schlagen und sich schließlich im erwarteten Todeskampf wie ein Ring um die Finger des Mannes zusammenziehen. Der Protagonist legt den Regenwurm vorsichtig beiseite. Ob er dabei lächelt oder es eher eine unbewusste Bewegung ist, wissen wir nicht, dafür kennen wir ihn noch nicht gut genug. Aber während er den Regenwurm beiseitelegt, bemerkt er eine Bewegung auf dem Weg zu seinem Haus. Der Protagonist beschattet seine Augen mit den schwieligen Händen, um gegen die tiefstehende Sonne zu sehen, wer da kommt. Für einen Moment durchzuckt ihn ein kurzer Schmerz, als er den Briefträger erkennt. Briefe haben noch nie etwas Gutes bedeutet. Immer haben sie Elend und Tod in sein Haus getragen. Die Kraft der unterdrückten Erinnerungen lässt den Mann kurz straucheln und nach dem Zaun greifen, um sich wieder zu fangen. Er spürt, wie sich ein Splitter des faserigen Holzes in seine Hand bohrt und ihn der Schmerz aus seinen Gedanken reißt. Der Mann legt seine Harke weg und geht ins Haus, um sich die Hände zu waschen. Schlechte Nachrichten nimmt man am besten mit sauberen Händen entgegen.

Und während der Protagonist nun auf die Ankunft des Briefträgers wartet, kann man verschiedenes mit seiner Geschichte anfangen. Man kann eine ganze Lebensgeschichte, einfach nur die Landschaft und das Wetter, oder beides beschreiben. Das Wetter ist immer dankbar, Landschaften sind schwieriger. Das Wetter kann die Stimmung für die weitere Geschichte festlegen. Da können sich Wolken mit großer Symbolkraft vor die Sonne schieben, gewaltige Gewitter mit grün schimmernden Wolken das ganz große Drama ankündigen. Vielleicht nieselt es aber auch einfach nur. Wie in jenem Herbst, als der Protagonist wartend in einem Hauseingang einer großen Stadt stand. Es ist ein feiner Niesel, den man nicht wirklich als Regen wahrnimmt, der aber in alle Ritzen der Kleidung kriecht. (Auch unser Briefträger versucht, wie eine Schildkröte seinen Kopf ein bisschen tiefer im Kragen verschwinden zu lassen.) Tausende mikroskopisch kleiner Tropfen schweben durch die Luft und legen sich wie ein feuchter Trauerflor über die Stadt. Mit bloßem Auge sind die einzelnen Tropfen nicht zu erkennen, zusammen ergeben sie jedoch einen grauen Vorhang, hinter dem Gebäude und Menschen nur noch gespenstische Schatten sind. Mehrfach ist unser Protagonist schon aus dem Hauseingang getreten, in dem er Schutz gesucht hat, weil er glaubte, die erwartete Person zu sehen. Doch jedesmal musste er sich einen Irrtum eingestehen. Seine ohnehin schon vorhandene Verunsicherung hat sich dadurch verstärkt. Wie gut kennt er die Person, auf die er wartet wirklich? War er nicht schon immer leicht irritiert in ihrer Gegenwart? Sich nie ganz sicher, ob sie alles so meinte, wie sie es sagte? Da war immer dieser Unterton von gebrochenem Glas in ihrer Stimme. Auf den ersten Blick sah er alles klar und deutlich vor sich, doch wenn er dann danach griff, zersprang es und er hatte nichts mehr in der Hand. So verschwand auch die Person immer hinter einem Nebelschleier, wenn er nicht direkt bei ihr war. Gerade so wie die dunklen, undeutlichen Gestalten, die vor ihm geduckt durch den Nieselregen hasteten.

Vielleicht  wird der Blick unseres Protagonisten aber auch vom Briefträger und seinem beschwerlichen Aufstieg abgelenkt. Von einem Insekt oder einem Vogel, den er aus dem Augenwinkel wahrnimmt. Für einen Moment folgt er seinem schnellen Flug über die frühlingsgrünen Hügel, bis er in den hohen Tannen verschwindet. Normalerweise vermeidet der Protagonist es, die Tannen anzublicken. Sie erinnern ihn an sein früheres Leben. Der Grund, warum er jetzt hier draußen abseits der Menschen wohnt. Die Tannen stehen düster in den sanften Hügeln, undurchdringlich für Blicke wirken sie verschlossen und dunkle Geheimnisse scheinen in ihnen zu wohnen. Gerade so wie in ihm damals, als er sich nur noch durch die Stadt treiben ließ. Aber ihre Vitalität ihn längst nicht mehr erreichte. Die Partys und Clubs, alles was er früher aufgesogen hatte, waren leere Räume für ihn. Meist stand er in düstere Gedanken versunken am Rand. Alles begann an dem Tag, als er in das Büro des Personalleiters gerufen wurde. Sätze, die er nie für möglich gehalten hatte und mit „Es tut uns leid…“ anfingen, in denen die „besondere Situation des Unternehmens“ vorkam und die mit „…müssen wir uns schweren Herzens von Ihnen trennen“ endeten, drangen von weit her zu ihm durch. Für das anschließende Spiel aus Bewerbung und Ablehnung war er nicht stark genug. Es folgte der Absturz mit Alkohol, Drogen und Spielschulden. Und als er seine Schulden nicht mehr bezahlen konnte, nutzten sie dies aus und machten ihn zum Komplizen. Er sah viel Blut, hörte viel Schreie und Beteuerungen in dieser Zeit. Und mit jedem Schrei und mit jeder Träne zog er sich weiter in seine innere Dunkelheit zurück. Jetzt könnte man ein besonders poetisches oder einschneidendes Ereignis einfügen, dass ihn zum Umdenken zwang. Aber so war es nicht. Er war es selber. Eines Abends sah er sich beim Zähneputzen im Spiegel und irgendetwas in der undurchdringlichen Dunkelheit seines Ichs regte sich. Sagte einfach „Nein, ich will das nicht mehr“. Am nächsten Tag verkaufte er alles, was er hatte, packte einen Rucksack und zog los. Schließlich landete er in dem Haus auf dem Hügel und mit den Jahren blieb von der dunklen Zeit, die er durchgemacht hat ein Tannenwald in ihm, wie jener auf den nun sein Blick fiel. Düster und undurchdringlich steht der innere Tannenwald da und er vermeidet es, diesen Fleck auf seiner Seele zu betrachten. Selbst wenn es nur noch Erinnerungen sind, machen sie ihm Angst. Aber er weiß, dass er sich eines Tages in dieses Dickicht schlagen muss. Der Tannenwald muss weg.

Huch, das sind ja ganz schön traurige Anfänge für eine Geschichte. Aber es geht auch anders. Da kann man die Spannung nutzen, die ein ankommender Brief mit sich bringt. Eine Spannung, die sich über Tage und Woche aufgebaut hat. Ein Brief ist ja nicht mal eben so verschickt. Wenn man ihn verschickt, dann muss er erst einmal beim Empfänger ankommen und der muss dann die Zeit finden eine Antwort zu verfassen, den Brief adressieren, eine Briefmarke finden, sie auf den Brief kleben und den Brief zum Briefkasten bringen. So etwas braucht seine Zeit. Eine Zeit von quälendem, endlosem Warten, wenn man auf eine Antwort harrt wie unser Protagonist.

Eigentlich ist es eine klassische Geschichte. Sie hatten sich bei Freunden kennen gelernt und waren die einzigen ohne Partner. Beiden war von Beginn an klar, warum man sie eingeladen hatte. Doch sie waren sich anfangs nicht sonderlich sympathisch. Er fand, sie habe eine Schweinsnase und es mangele ihr an Tiefe. Sie fand ihn zu grüblerisch und fand die Idee, sich ein Haus weit draußen auf einem einsamen Hügel zu kaufen, bescheuert. Außerdem hatte er Haare auf den Handrücken. In der Folgezeit trafen sie sich häufiger auf Festen und Feiern. Ihre langsame Annäherung begann aber erst bei einer Silvesterfeier gut zwei Jahre nach ihrem ersten Treffen. An Silvester passiert mit Paaren immer etwas Merkwürdiges. Aus irgendeinem Grund scheint dieses Datum so besonders, dass sie näher zusammenrücken und mehr Händchenhalten und Zärtlichkeiten austauschen als sonst. So standen der Protagonist und die Frau an diesem Abend etwas verloren auf der Feier herum. Bislang hatte es jeder von ihnen vermieden, ein längeres Gespräch mit dem anderen zu beginnen. Warum auch? Diese giffelnde Schweinsnase. Dieser behaarte, bornierte Affe.

Doch an diesem Silvesterabend entdeckten sie ihren gemeinsamen Hang zu kleinen, bösen Lästereien. Unser Protagonist musste sich eingestehen, dass sie über einen ebenso feinen Humor wie feine Beobachtungsgabe verfügte. Wenn nur nicht diese Schweinsnase wäre. Bei den nächsten Feiern wurde die Zeitspanne, bis sich die beiden irgendwo lästernd in einer Ecke wiederfanden, immer kürzer und die Schweinsnase immer bezaubernder. Was im Übrigen auch für die behaarten Hände galt, seit er nach einer bierseligen Feier diese wundervollen Lieder am Klavier gespielt hatte. Seit dieser Feier verstand sie auch, warum er die Einsamkeit des Hauses auf dem Hügel brauchte, um diese Melodien zu komponieren und sie hätte die Stadt mit Freuden sausen lassen, nur um seiner bernsteinfarbenen Stimme und seiner Musik zu lauschen.

Doch weil sie ebenso wie er den ersten Schritt scheute, musste sie noch warten, bis er diesen Brief schrieb. Der Brief wurde ihm etwas zu lang, weil das Schwierigste an der Liebe, der Moment ist, an dem man sich dem anderen offenbart und sich angreifbar macht. Also ersann er lange Erklärungen, die er ungelenk niederschrieb, um die Frage zu rechtfertigen, ob sie ihn nicht einmal in seinem Haus auf dem Hügel besuchen wollte. Als er den Brief eingeworfen hatte, begann für ihn das Warten. An Arbeiten war kaum noch zu denken, zu sehr beschäftigte ihn die Frage, ob sie antworten wird und vor allem was. Wie immer verließ er jeden Morgen das Haus, um auf den Briefträger zu warten. War es bislang eine Art morgendliche Meditation gewesen, wurde es jetzt zu einer Zeit unerträglicher Spannung. Unser Protagonist weiß ja nicht, wie der Brief bei der Frau angekommen ist. Er weiß nichts von dem Schock, den er bei ihr auslöste, als sie seinen Absender erkannte. Jeder, der schon einmal einen überraschenden Brief von einer geliebten Person bekommen hat, weiß, was ich meine. Das Herz schlägt bis in den Hals, nur um im nächsten Moment mit einem lauten Plumps in die Hose zu rutschen. Gleichzeitig ziehen alle Bilder der bisherigen Beziehung zu dem Menschen in windeseile an einem vorbei und man versucht verzweifelt, darin den Grund für den Brief zu finden. Gut oder schlecht? Die Frau, überwältigt von ihren Gefühlen, legte den Brief in eine Ecke und rührte ihn zwei Tage nicht an. Nachdem sich dann der erste Sturm gelegt hatte, öffnete sie den Brief mit dem größtmöglichen Gleichmut zu der sie fähig war. Schon nach dem zweiten Satz hatte sie diesen Gleichmut verloren und alles in ihr jubelte „Ja, natürlich will ich“. Und seine ungelenken Formulierungen fielen ihr gar nicht auf, weil sie den Brief mit dem Herzen las. Am liebsten hätte sie sofort ihre Koffer gepackt und wäre losgefahren. Doch das Ritual verlangte es, dass sie nun einen Antwortbrief schrieb. Am Ende wusste sie nicht mehr, wie oft sie den Brief neu angefangen hatte. Ganze drei Tage benötigte sie, um das Couvert, immer noch unzufrieden mit ihren Formulierungen, mit dem Gedanken „Augen zu und durch“, zuzukleben.

Wir erinnern uns, sie ließ den Brief zwei Tage liegen und benötigte drei Tage bis sie ihn losschickte. Rechnet man nun noch zwei Tage für den Postweg hinzu, dann hat unser Protagonist sieben Tage zwischen Hoffen und Bangen auf eine Antwort gewartet. Sieben Tage hat er jeden Morgen seine glückselige Hoffnung mit dem Gedanken, dass sie so oder so nicht antworten wird, niedergeschlagen. Sieben Tage hat er sich jeden Morgen überlegt, was er sagen würde, wenn sie ablehnt und man sich auf der nächsten Feier wiedersehen würde. Eigentlich war ja nichts passiert, er hatte ja nur gefragt, ob sie ihn mal besuchen kommt. Man würde auf der nächsten Feier gemeinsam überlegen, mit dem Hinweis darauf, dass man schrecklich viel zu tun habe, keinen gemeinsamen Termin finden und dann die Sache einschlafen lassen. Und jeden Morgen, wenn der Briefträger ihn endlich erreicht hatte und keinen Brief von ihr dabei hatte, fiel er wieder in ein kleines Loch. Bis zu diesem Morgen, an dem wir unseren Protagonisten das erst Mal beobachtet haben. Er weiß natürlich noch nichts davon, dass der Briefträger endlich den langersehnten Brief in seiner braunen, wettergegerbten Tasche hat. Und leider erfahren wir auch seine Reaktion nicht mehr, weil der Blogpost an dieser Stelle schon viel zu lang geworden ist und wir unseren Protagonisten hier verlassen müssen.

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